Totgesagte leben länger – SPD in der Existenzkrise

Die Transformationsaufgabe als Perspektive sozialdemokratischer Politik

„Entweder die Menschheit wird in den nächsten 20- 30 Jahren eine nachhaltige Welt, eine Welt in Balance auf den Weg gebracht haben, oder die Menschheit wird auf diesem Planeten aufhören. Nachhaltigkeit ist die einzig tatsächlich alternativlose Perspektive aller heutigen Politik,“ stellt Thomas Weber zu Beginn eines Aufsatzes in den Perspektiven DS 1/2018 lakonisch fest. Unter dem Titel „Totgesagte leben länger – SPD in der Existenzkrise“ dekliniert er diese Feststellung am Beispiel der aktuellen Krise durch, in der sich die SPD offenbar befindet.

„Wir können die erste Generation sein, der es gelingt, die Armut zu beseitigen, ebenso wie wir die letzte sein könnten, die die Chance hat, unseren Planeten zu retten“ (UNO- Generalsekretär Ban Ki-Moon August 2015)

Thesenpapier – Globale Nachhaltigkeit
von Thomas Weber
Vorwort des Schüren-Verlags zur Ausgabe 1/18 der Zeitschrift Perspektiven DS, in welcher der Artikel zuerst erschienen ist: „Ist es wirklich keine Krise mehr, sondern schon eine Existenzkrise, in der sich die SPD zur Zeit befindet? Für manche ist es keineswegs mehr sicher, dass die deutsche Sozialdemokratie eine wichtige politische Kraft bleibt. Mittlerweile steht so ziemlich alles auf dem Spiel, auch eine großartige, über 150jährige Geschichte schützt nicht vor historischem Untergang. Ausgehend davon, dass kein Weg an der Kapitalismuskritik von Karl Marx (jedenfalls solange, wie auch immer gewandelt, Kapitalismus existiert) vorbeiführt, enthalten diese perspektivends vor allem – zugegebenermaßen manchmal frech zugespitzte – Krisenanalysen der SPD und Vorschläge zu grundlegenden Erneuerungsperspektiven für die Sozialdemokratie. Ungeduld ist dabei eine Tugend gerade der Jüngeren, dennoch wird das Comeback der SPD mit neuer solidarischen Profilierung sicher seine Zeit brauchen (und wer dies von vorne herein als zum Scheitern verurteilt erklärt, wirkt kaum hilfreich). Mit unserem Heft werden sich nicht gleich alle Trends umkehren, doch können unsere Beiträge auch da, wo Widerspruch programmiert ist, helfen den Horizont zu öffnen.“

Vorbemerkungen

1 Perspektiven haben einen Ausgangspunkt und eine Richtung. Politische Perspektiven richten den Blick von der Gegenwart des Gemeinwesens aus in dessen Zukunft. Ihre Richtung hängt davon ab, welche Ziele von welcher Gegenwart aus gesetzt und verfolgt werden. Wo Zukunft nicht politisch gedacht wird, gibt es auch keine politischen Perspektiven. Politik, die keine oder unpolitische Perspektiven hat, wird zuerst orientierungslos, dann kraftlos und schließlich unattraktiv.

2 Wer heute Zukunft politisch denken und politische Perspektiven aufzeigen will, kommt an der globalen Nachhaltigkeit als Ziel allen politischen Handelns nicht vorbei. Die globalen eskalierenden und nicht- nachhaltigen Prozesse der Gegenwart stellen die grundsätzliche Zukunftsfrage der Menschheit schlechthin und verbinden die Beantwortung dieser Frage mit einer denkbar kurzen Frist. Entweder die Menschheit wird in den nächsten 20- 30 Jahren eine nachhaltige Welt, eine Welt in Balance auf den Weg gebracht haben, oder die Menschheit wird auf diesem Planeten aufhören. Nachhaltigkeit ist die einzig tatsächlich alternativlose Perspektive aller heutigen Politik.

3 Wo Zukunft nicht politisch gedacht wird, spielt Nachhaltigkeit keine Rolle. Es besteht auch ein Zusammenhang zwischen der immer prekärer werdenden Lage der Politik in Deutschland und in den Industrieländern und der Art, wie diese Politik über Nachhaltigkeit redet und es zulässt, wie über Nachhaltigkeit geredet wird. Dies gilt in besonderer Weise für die SPD und die politische Linke insgesamt, deren politisches Grundverständnis mit Fortschritt und Gestaltung einer „besseren“ Zukunft verbunden ist.

4 Dass das Wortfeld um „Nachhaltigkeit“ in der Sprache und in der politischen Diskussion unscharf, falsch, bagatellisierend, inflationär, gedankenlos etc. gebraucht wird, geschieht nicht interesse- und absichtslos. Je mehr Verdruss am Nachhaltigkeitsbegriff erzeugt wird, umso mehr wird abgelenkt von der Situation, in der Nachhaltigkeit ihre wirkliche politische Gestaltungskraft entfaltet. Je weniger Nachhaltigkeit als alternativloses politisches Ziel verstanden und gesehen wird, desto mehr Raum gibt es, private und unpolitische Sonderinteressen zu verfolgen, desto weniger politische Gestaltung wird gewollt und akzeptiert, desto schwächer wird das Primat der Politik.

5 Die vermeintliche Unschärfe des Nachhaltigkeitsbegriffes spricht indes nicht gegen den Begriff, sondern vor allem dafür, sich über das politische Potential klarzuwerden, ihn als politischen Begriff zu verstehen und für die Politik zu nutzen. Und dieses Potenzial ist erheblich und auch für die Sozialdemokratie von überragender Bedeutung: Da das Ziel der Nachhaltigkeit letztlich auch den Kern aller sozialdemokratischen und linken Orientierung und Zielsetzung bilden muss und bildet.

Nachhaltigkeit = Achtung und Schutz der Würde des Menschen + Erhaltung der Umwelt für den Menschen

6 Nachhaltigkeit ist ein politischer Begriff. Er hat letztlich den Erhalt der Polis, d.i. des Gemeinwesens zum Ziel. Hans Carl von Carlowitz führte vor 300 Jahren das Prinzip der nachhaltigen Waldbewirtschaftung als politische Vorgabe ein, um das Verschwinden und den Kollaps der Wälder als Folgen des Bergbaus im Erzgebirge zu verhindern. Heute 300 Jahre nach Carlowitz bedeutet Nachhaltigkeit die Vermeidung und die Verhinderung des Kollapses globaler – ökologischer und zivilisatorischer – Systeme, und damit die Verhinderung und Vermeidung eines heute drohenden und vorstellbaren Kollapses der Welt als Polis der Menschheit. Nachhaltigkeit ist untrennbar mit dem Gedanken des Kollapses verbunden. Was nicht nachhaltig ist, führt zu Kollaps und Verlust.

7 Die Verhinderung des Kollapses verlangt, vom Ende her, vom verhinderten Kollaps her zu denken, und von diesem Ende her zu verstehen, was heute notwendig ist. Vom Ende her gedacht, wird es entweder eine für Menschen bewohnbare Erde geben, die nachhaltig ist, d. i. eine Erde, auf der die Menschen so wirtschaften, dass von ihnen keine Gefahr des Kollapses der Erdsysteme mehr ausgeht, oder es wird keine für die Menschheit bewohnbare Welt mehr geben.

8 Von diesem Ende her gedacht, können wir Nachhaltigkeit bzw. einen nachhaltigen Zustand der Welt als einen Zustand beschreiben, in dem zweierlei realisiert wird: Zum einen die Achtung und der Schutz der Würde des Menschen, daraus abgeleitet die Realisierung des Schutzes der Menschenrechte, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zum anderen die Erhaltung der Umwelt für den Menschen durch die Realisierung einer vollkommenen Stoffkreislaufwirtschaft auf der Basis regenerativer Energieerzeugung. Beides gehört zusammen. Es sind die zwei Seiten derselben Medaille.

9 Die im September 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedeten globalen Nachhaltigkeitsziele „Transformation unserer Welt: die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ (Sustainable Development Goals (SDG)) denken die Welt vom Jahr 2030 her und formulieren in 17 Zielen, wie die Welt im Jahr 2030 gestaltet sein muss, um den Kollaps der Weltpolis zu verhindern. Die Frist des Jahres 2030 ist dabei nicht allein als politische Absichtserklärung zu verstehen. Diese Frist markiert vor dem Hintergrund der gegenwärtigen realen globalen Veränderungsprozesse durchaus auch die Frist, jenseits der diese Prozesse vielleicht nicht mehr gestaltbar bzw. aktiv beeinflussbar erscheinen. Viel mehr Zeit ist wohl nicht für eine Menschheit und Weltbevölkerung, die auf die zehn Milliarden Menschen in den nächsten 25 Jahren zusteuert – das bedeutet: 25 Jahre lang wächst die Weltbevölkerung jedes Jahr um die Bevölkerung Deutschlands – , die Welt noch in politisch – zivilisatorischer Weise zu organisieren.

10 Umfang und Zeitplan der SDG formulieren eine gewaltige Aufgabe, der sich kein Land, keine Gesellschaft, letztlich niemand auf der Welt – außer bei Strafe von Zivilisationsbrüchen und letztlich des Unterganges – entziehen kann. Die SDG richten sich an alle Länder der Welt. Die verschiedenen Ziele adressieren indes verschiedene Länder und Gesellschaften in unterschiedlicher Weise.

11 Die Industrieländer sind in besonderer Weise von SDG 12 im Hinblick auf Förderung und Schaffung nachhaltiger Produktions- und Konsummuster angesprochen. Sind es doch die in den Industrieländern praktizierten Produktions- und Konsummuster, die sich nicht auf eine Welt mit bis zu 10 Milliarden Menschen übertragen lassen, ohne dass die globalen Erdsysteme kollabieren. Damit zielt SDG 12 vor allem auf die Transformation der Lebensstile und Wirtschaftsweisen in den Industrieländern in dem Sinne, dass diese sich von ihrer gegenwärtigen Weltunverträglichkeit zur Weltverträglichkeit transformieren, dass sie als Muster für die Welt taugen und in Umkehrung der ursprünglichen Weltanschauungsperspektive der Anschauung der Welt standhalten können.

12 Die Schaffung nachhaltiger Produktions- und Konsummuster stellt den Industrieländern die Aufgabe der großen Transformation von der Linearwirtschaft zur völligen Kreislaufwirtschaft. Kennzeichen der Kreislaufwirtschaft sind die völlige Vermeidung von Abfall, d. i. Schadstoffeintrag in die Umwelt, und die Nutzung ausschließlich kreislaufwirtschaftlich erzeugter regenerativer Energien.

13 Dass dieses mehr ist als nur eine wirtschaftliche Entwicklung, zeigt sich begrifflich/gedanklich z. B. im Verschwinden des Verbrauchers bzw. des Verbrauches. In einer Kreislaufwirtschaft wird nichts mehr verbraucht. Die Stoffe werden genutzt bzw. gebraucht. Und im Gegensatz zum Verbrauch, der sich im Verbrauch erschöpft, sind Gebrauchen und Nutzen immer mit einem „für etwas“, mit einem Zweck verbunden. Die Transformation von einer Verbrauchswirtschaft zu einer Gebrauchswirtschaft wird daher auch eine Veränderung gesellschaftlicher Wertvorstellungen bedeuten. Sie geht einher mit der Notwendigkeit, bei Produktion und Konsum bewusst gesetzte Zwecke und Ziele zu verfolgen.

14 Zu dieser großen gesellschaftlichen Transformation gibt es keine politisch sinnvolle Alternative. Sie ist notwendig für eine Zukunft dieser Erde mit Menschen. Wenn Nachhaltigkeit -d.i. Erhalt der Welt als Polis – eine politische Notwendigkeit ist, dann ist es auch politisch notwendig, dass unsere Produktion und unser Konsum, unser gesamtes wirtschaftliches Verhalten, sei es als Unternehmer oder Verbraucher, sich an Nachhaltigkeit orientieren.

15 Die Etablierung dieses nachhaltigen Verhaltens ist freilich nur auf an Nachhaltigkeit orientierten Märkten möglich, das sind Märkte, auf denen letztlich nur nachhaltig hergestellte Produkte gehandelt werden können. Solche Märkte werden sich allein durch individuelles Verhalten von Marktakteuren, von Unternehmern, Anbietern und Verbrauchern nicht etablieren. Es dürfte für die meisten Akteure auch grundsätzlich nicht einleuchtend sein, warum der einzelne für die Lösung eines kollektiven Problems, nämlich die mangelnde Nachhaltigkeit des Wirtschafts- und Marktsystems, das der einzelne allein nicht verursacht hat, in Anspruch genommen werden soll. Wenn die Etablierung nachhaltiger Märkte politisch notwendig ist, dann kann diese Etablierung letztlich nicht von den Entscheidungen, den Vorlieben und Interessen einzelner Akteure abhängig gemacht werden. Vielmehr ist dann auch die Politik gefordert, die Rahmenregeln und die Ordnung für diese Transformation zu setzen. Deshalb formuliert die Transformation die umfassende Marktregulierung als politische Aufgabe. Die Regulierung der Märkte ist die notwendig politische Aufgabe, um den menschheitsgeschichtlich präzedenzlosen Verbrauch der planetaren Lebensgrundlagen so schnell wie möglich zu beenden und damit die menschheitsgeschichtlich ebenso präzedenzlose anthropogene Bedrohung der Menschheit abzuwehren.

16 Regeln bedeuten Konsens, Nachvollziehbarkeit und Verlässlichkeit. Im Hinblick auf Nachhaltigkeit kann es, weil Nachhaltigkeit, d.i. die Bewahrung der Welt als einem Ort, an dem Polis möglich ist, gut ist, von alledem nicht genug geben. Konsens, Nachvollziehbarkeit und Verlässlichkeit können natürlich grundsätzlich auch freiwillig, ohne gesetzte Regeln, erfolgen. Freiwilligkeit bedeutet im Gegensatz zu Gesetzgebung dann aber nur, dass der Konsens von einzelnen oder mehreren – auch allen -auf Grund der Verfolgung von Einzelinteressen problem- und auch folgenlos aufgekündigt werden kann. Das darf in Fragen der Nachhaltigkeit nicht geschehen, da Nachhaltigkeit keine Frage von Einzelinteressen ist. Wenn Nachhaltigkeit Konsens ist, dann ist prinzipiell auch nachhaltigkeitsbezogene Gesetzgebung Konsens.

17 Der Verweis auf die Verantwortung und Zuständigkeit der Politik und des Gesetzgebers, die notwendigen Regeln zu setzen, macht indes – zumal in Demokratien – das Bemühen um die Förderung und Veränderung des individuellen Konsums in Richtung Nachhaltigkeit oder des einzelnen Unternehmens oder das Bemühen um Geldanlage- und Investitionsentscheidungen in Richtung Nachhaltigkeit nicht überflüssig oder gar sinnlos. Im Gegenteil: Die Diskussion um nachhaltigen Konsum und nachhaltige Geldanlagen ist eine notwendige Voraussetzung, sie ist notwendig für die Schaffung des politischen Klimas, das die Politik dann in die Lage setzt, die auch hinreichenden Voraussetzungen zur Etablierung dieser Märkte, nämlich die gesetzlichen Regelungen, auf den Weg zu bringen.

18 Konkret könnte in Europa diese gesetzliche Regelung so aussehen, dass die EU, die für die Marktpolitik zuständig ist, festlegt, dass auf den Märkten Europas nur noch nachhaltig produzierte Waren und mit Nachhaltigkeit vereinbare Dienstleistungen angeboten werden dürfen. Eine „Nachhaltigkeitsdesignrichtlinie“ könnte in einer Weiterentwicklung bzw. Neuausrichtung der schon bestehenden Ökodesignrichtlinie bestehen. Diese Ökodesign-Richtlinie dient bisher der Schaffung eines Rahmens für die Festlegung von Anforderungen an die umweltgerechte Gestaltung energieverbrauchsrelevanter Produkte. Sie zielt auf eine verbesserte Energieeffizienz und allgemeine Umweltverträglichkeit von Elektrogeräten. Letztlich wird in ihr also ein Rahmen für die Produktgestaltung gesetzlich definiert. Dieser Rahmen könnte nun um weitere Nachhaltigkeitskriterien erweitert bzw. konkretisiert werden, so dass nicht nur Energieeffizienz und allgemeine Umweltverträglichkeit von Produkten, sondern auch Sozialverträglichkeit und Rahmenbedingungen für den Herstellungsprozess vorgegeben werden. Die Ausverhandlung einer solchen Richtlinie ist natürlich ein großes Projekt. Es gibt aber – vor dem Hintergrund des Notwendigen – kaum einen Grund, warum das in den nächsten zehn Jahren in Europa nicht auf den Weg gebracht werden kann.

Ausrichtung der Digitalisierung auf globale Nachhaltigkeit

19 Zu einer Fortschrittserzählung der Sozialdemokratie wird neben der Marktregulierung aber auch die Ausrichtung der seit wenigen Jahrzehnten menschheitsgeschichtlich in Geschwindigkeit und Qualität ebenso präzedenzlosen digitalen Revolution und Digitalisierung auf die Nachhaltigkeit und die globalen Nachhaltigkeitsziele hin gehören. Mit dieser Ausrichtung – und vermeintlich nur mit dieser Ausrichtung – kann es sein, dass der Menschheit mit der Digitalisierung und digitalen Kommunikation das Instrument in die Hand gegeben wird, das die notwendige Transformation unserer Wirtschaft und Lebensweise tatsächlich denkbar und bewältigbar erscheinen lässt.

Thomas Weber ist klassischer Philologe, arbeitet seit über 25 Jahren in der Landes- und Bundesverwaltung, war Mitarbeiter von Harald B. Schäfer im Umweltministerium in Baden-Württemberg und von Herta Däubler-Gmelin im Bundesministerium der Justiz in Bonn und Berlin, und ist heute Leiter des Referates Nachhaltigkeit im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz.

->Quelle: schueren-verlag.de/perspektiven-ds/totgesagte-leben-laenger-spd-in-der-existenzkrise