Skandalöse Antwort der EZB auf Petition und Offener Brief

Petition Nr. 0429/2017 von Harald Bolsinger zur Übereinstimmung der Europäischen Zentralbank mit der EU-Charta der Grundrechte – Antwort der EZB – Erwidernde Antwort der Weltethos-Forschungsgruppe als Offener Brief

Sehr geehrter Herr Abgeordneter des Europäischen Parlaments,
Sehr geehrte Frau Montserrat,
Vielen Dank für Ihr Schreiben, in dem Sie die Europäische Zentralbank (EZB) um weitere Informationen zu ihrer Antwort auf die Petition Nr. 0429/2017 von Harald Bolsinger (Deutsch) über die Einhaltung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden „Charta“) durch die EZB ersuchen. Das vorrangige Ziel der EZB besteht gemäß dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (im Folgenden „Vertrag“) darin, mittelfristig Preisstabilität zu gewährleisten. Um dieses vorrangige Ziel zu erreichen, stehen der EZB und den nationalen Zentralbanken des Eurosystems eine Reihe von Instrumenten zur Verfügung, die in der Satzung der EZB und des ESZB (im Folgenden „Satzung“) aufgeführt sind. Kreditgeschäfte mit Kreditinstituten und anderen Marktteilnehmern sind eines dieser Kerninstrumente, wie in Artikel 18 der Satzung festgelegt. Die Notenbankfähigkeit von Vermögenswerten als Sicherheiten für solche Kreditgeschäfte richtet sich daher in erster Linie nach Überlegungen hinsichtlich des geldpolitischen Ziels und eines angemessenen Risikomanagements – der Abschirmung des Eurosystems gegen potenzielle Verluste. Das Eurosystem stellt sicher, dass Sicherheiten dem geldpolitischen Ziel dienen und dass das Eurosystem angemessen gegen Risiken geschützt ist, und behält sich das Recht vor, die Mobilisierung bestimmter Sicherheiten zu begrenzen oder abzulehnen. Gemäß Artikel 19 der Satzung und innerhalb der vom Rat nach diesem Artikel festgelegten Grenzen kann das Eurosystem zur Verfolgung der geldpolitischen Ziele von den Kreditinstituten verlangen, Mindestreserven zu unterhalten. Mindestreserven sind nicht besichert, da sie eine Einlage darstellen, die von Kreditinstituten, die den Mindestreservevorschriften des Eurosystems unterliegen, bei ihren jeweiligen nationalen Zentralbanken des Eurosystems getätigt werden. Kein Kontrahent ist aufgrund der Mindestreservepflicht verpflichtet, Sicherheiten zu halten.

Gleichwohl ist die EZB, wie bereits in einer kürzlichen Antwort auf eine schriftliche Anfrage des Abgeordneten Daty erwähnt, ein Adressat der Charta der Grundrechte innerhalb der Grenzen von Artikel 51 dieser Charta. Die EZB achtet die Rechte, beachtet die Grundsätze und fördert die Anwendung der Charta im Einklang mit ihren Befugnissen und unter Beachtung der Grenzen der Zuständigkeiten der Union, die ihr in den Verträgen (Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) übertragen wurden. Gleichzeitig implizieren das präzise und begrenzte Mandat und die Befugnisse, die der EZB durch die Verträge übertragen wurden, sowie die Grenzen der Zuständigkeiten der Union, die ihr durch die Verträge übertragen wurden, dass die EZB zwar Adressat der Charta ist, aber nicht automatisch verpflichtet ist, die Charta gegenüber den Emittenten von Wertpapieren, die sie für ihre geldpolitischen Operationen für geeignet hält, durchzusetzen. Die folgenden Erwägungen tragen zur Untermauerung dieser Ansicht bei, auch wenn man anerkennt, dass die Angelegenheit komplex sein kann.

  •  Erstens fallen private Kapitalgesellschaften wie die vom Petenten in seiner ursprünglichen Petition genannten Emittenten nicht direkt in den Anwendungsbereich der Charta, die besagt, dass sie sich an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter gebührender Beachtung des Subsidiaritätsprinzips und an die Mitgliedstaaten nur dann richtet, wenn diese das Unionsrecht umsetzen. Diese Körperschaften unterliegen jedoch stattdessen bestimmten Regeln, die für ihr Verhalten innerhalb der jeweiligen Rechtsordnungen gelten, wozu auch Regeln gehören können, die in unmittelbar anwendbaren EU-Verordnungen oder anderen Rechtsakten festgelegt sind. Die EZB kann die Notenbankfähigkeit von Sicherheiten nicht von conditior’IS abhängig machen, was den Anwendungsbereich der Charta über die in Artikel 51 der Charta festgelegten Grenzen und ihre eigenen Befugnisse über das in den Verträgen festgelegte Mandat hinaus erweitern würde.
  • Zweitens fällt die maßgebliche Beurteilung angeblicher Verletzungen von Grundrechten nach der Charta oder anderer Vorschriften in EU-Rechtsakten, die mit dem Schutz dieser Grundrechte in Zusammenhang stehen können, in den Zuständigkeitsbereich der zuständigen Regulierungsbehörden und letztlich der zuständigen nationalen und EU-Gerichte und nicht in den der EZB oder privater selbst beglaubigter Institutionen. Die EZB kann sich nicht an die Stelle der zuständigen EU- oder nationalen Gerichte und Behörden setzen, indem sie EU-Unternehmen – auf welche die Charta nicht einmal direkt anwendbar ist – bei angeblichen Verstößen beurteilt und gegebenenfalls indirekt sanktioniert. Die EZB kann sich auch nicht einfach den Erkenntnissen privater, selbst beglaubigter Quellen, wie sie vom Petenten vorgeschlagen werden, unterwerfen. Daher kann die EZB die Zulässigkeit von Vermögenswerten bei ihren geldpolitischen Operationen nicht, wie vom Petenten vorgeschlagen, von der Meinung einer privaten Einrichtung über die Einhaltung der Charta durch die Emittenten abhängig machen.

Erwidernde Antwort der Weltethos-Forschungsgruppe als Offener Brief

Sehr geehrte Frau Montserrat,
Ehrenwerte Mitglieder des Europäischen Petitionsausschusses,

als Mitglieder der Weltethos-Forschungsgruppe für Finanzen und Wirtschaft richten wir diesen Brief an Sie und gleichzeitig an den breiteren Kreis der Verantwortlichen in den europäischen Institutionen, weil eine dringende Handlungsweise bezüglich des Geschäftsgebarens der Europäischen Zentralbank (EZB) offen diskutiert werden muss: Die EZB wirkt mit wesentlichen Teilen ihres Kerngeschäfts einer nachhaltigen Strategie für die Zukunft Europas entgegen.

Als Antwort auf die Petition unseres Forschungsgruppenmitglieds Prof. Dr. Harald Bolsinger an den EU-Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments („Bekenntnis der Europäischen Zentralbank zur EU-Grundrechtscharta“ vom 08.05.2017, Petition 0429/2017) hat die EZB ein Antwortschreiben zurückgeschickt, das am 05.08.2020 versandt wurde. In diesem Schreiben wird klargestellt, warum diese Frage bei der EZB immer noch nicht ausreichend behandelt wurde. Im September 2020 analysierten wir die schriftliche Antwort während eines wissenschaftlichen Kongresses mit einem Expertengremium der Weltethos-Forschungsgruppe für Finanzen und Wirtschaft und möchten Ihnen unsere Einschätzung mitteilen:

In der Antwort wird ausdrücklich anerkannt, dass die EZB verpflichtet ist, die EU-Charta der Grundrechte zu respektieren. Ferner wird erklärt, dass die EZB die Grundrechte respektiere, die Einhaltung der Grundsätze überprüfe und ihre Anwendung fördere: „Die EZB respektiert die Rechte, hält die Grundsätze ein und fördert die Anwendung der Charta“. Diese Aussage ist schlichtweg falsch, da die EZB selbst bestätigt, dass sie keine Bewertung der Einhaltung der Grundrechte bei marktfähigen Vermögenswerten oder anderen Wertpapieren durchführt, mit dem Argument, dass die Charta der Grundrechte nicht auf Transaktionen mit Privatunternehmen anwendbar sei. „Obwohl die EZB ein Adressat der Charta ist, ist sie nicht automatisch verpflichtet, die Charta gegenüber den Emittenten von Wertpapieren durchzusetzen, die sie für ihre geldpolitischen Operationen für geeignet hält.“ Die Zentralbank verschließt bewusst die Augen vor der in der Petition dargelegten Beweislage. Mit einer solchen Rechtfertigung wäre es jeder europäischen Institution erlaubt, in großem Umfang beispielsweise umweltzerstörende Produkte zu kaufen und weiterzuverkaufen, die von Sklaven hergestellt und von korrupten Steuerhinterziehern produziert wurden, solange es innerhalb der Institution selbst keine direkten Verstöße gegen die Charta der Grundrechte gibt.

Erstaunlich ist, dass die EZB die Einhaltung der Grundrechte bei marktfähigen Gütern nicht überprüft oder voraussetzt, obwohl dies auf einfache Weise rechtlich möglich wäre: „Die Notenbankfähigkeit von Vermögenswerten als Sicherheiten […] wird also in erster Linie von Überlegungen zum geldpolitischen Ziel und zu einem angemessenen Risikomanagement geleitet“. „Das Eurosystem […] behält sich das Recht vor, die Mobilisierung bestimmter Sicherheiten einzuschränken oder abzulehnen“. Die EZB versäumt es daher wissentlich, ihre grundlegende Sorgfaltspflicht zu erfüllen, und hat dies bestätigt. Darüber hinaus behauptet sie, dass sie dieser grundlegenden Due Diligence-Prüfung überhaupt nicht unterworfen sei. Aus unserer Sicht ist dies ein Skandal und der Europäischen Union unwürdig. Da die EZB die Prüfung auf Einhaltung der Grundrechte nicht selbst durchführt, wird in der Antwort vorsichtshalber behauptet, sie könne sich auch nicht auf externe Nachhaltigkeitsratings etablierter Rating-Agenturen beziehen. „Die EZB kann die Notenbankfähigkeit von Vermögenswerten […] nicht auf die Meinung eines privaten Unternehmens hinsichtlich der Einhaltung der Charta durch die Emittenten gründen“. Dies steht im Widerspruch zu der Tatsache, dass die EZB Ratings und Dienstleistungen von Standard & Poor’s, Moody’s, BlackRock usw. selbst einholt oder in ihren Risikobewertungen berücksichtigt – insbesondere bei der Bewertung marktfähiger Vermögenswerte oder sogar von Geschäftsbanken. Darüber hinaus legt diese Aussage nahe, dass die Nachhaltigkeitsratings weltweit anerkannter Rating-Agenturen aus Sicht der EZB nicht verlässlich seien, was in völligem Widerspruch zur EU-Praxis in Bezug auf die neue EU-Taxonomie für nachhaltige Aktivitäten steht, wie sie von der Europäischen Kommission vorgestellt wurde.

Aus unserer Sicht widerspricht die Antwort des Generaldirektors für Internationale & Europäische Beziehungen der EZB den öffentlichen Äußerungen von Präsidentin Lagarde, dass Nachhaltigkeitsfragen – insbesondere im Zusammenhang mit dem Klimawandel – künftig in der geldpolitischen Praxis Berücksichtigung finden werden. Dies ist der wichtigste Punkt, da ein langfristig erfolgreiches Handeln der Zentralbank auf einer konsistenten, einheitlichen Kommunikation beruht, um Glaubwürdigkeit zu gewährleisten. Da die Antwort an den EU-Petitionsausschuss nicht direkt vom Präsidenten, sondern nur vom Generaldirektor Internationale & Europäische Beziehungen unterzeichnet wurde, empfehlen wir, sich direkt an Frau Lagarde mit der Bitte um eine persönliche Antwort und Stellungnahme zu wenden, zumal sie in der Anfrage des Petitionsausschusses direkt und persönlich angesprochen wurde.

Darüber hinaus widerspricht die Antwort, die wir erhalten haben, auch den öffentlichen Äußerungen anderer EZB-Führungskräfte, wie z.B. denen von Isabel Schnabel (Mitglied des Direktoriums der EZB). In ihrer Rede auf dem Europäischen Gipfel für nachhaltige Finanzwirtschaft Ende September 2020 nahm Frau Schnabel die von unserem Forschungsgruppenmitglied aus der Petition 2017 vorgeschlagene Lösung als einen Weg für die EZB, dem Klimawandel entgegenzuwirken, wörtlich an und sagte „Wir könnten erwägen, die Zulässigkeit von Wertpapieren als Sicherheiten bei unseren Refinanzierungsgeschäften an die Offenlegungsvorschriften der emittierenden Unternehmen zu knüpfen. Dann würde das Eurosystem Sicherheiten nur dann akzeptieren, wenn es in der Lage ist, klimabedingte Risiken vollständig zu bewerten“.

Diese Ungereimtheiten zwischen den öffentlichen Ankündigungen der EZB-Führer und der Reaktion des Generaldirektors für internationale und europäische Beziehungen zu einem so wichtigen Thema legen einen Konflikt innerhalb der EZB in Bezug auf mögliche Änderungen der Politik zur Minderung von Klimarisiken und damit auch in Bezug auf die Risiken der Einhaltung von Grundrechten nahe. Wir halten es daher für unerlässlich, eine sofortige und breite öffentliche politische Diskussion über dieses Thema zu führen, insbesondere jetzt.
Wir empfehlen, dass sich der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments dafür einsetzt, dass die EZB zum ersten Mal in ihrer Geschichte verpflichtet wird, dem Parlament Transparenz hinsichtlich der Einhaltung der Grundrechte bei allen gehandelten Wertpapieren und Vermögenswerten – insbesondere bei den als marktfähige Sicherheiten anerkannten Wertpapieren im Wert von 15 Billionen US-Dollar – zu gewährleisten und dann in einem zweiten Schritt auf die Aufforderung zu reagieren, die die EZB unter der Leitung von Präsident Mario Draghi in ihrer Antwort vom 22. Juni 2018 an den Petitionsausschuss ausgesprochen hat, in der sie selbst erklärt: „Es ist Sache der politischen Behörden, geeignete Maßnahmen zur Behandlung solcher Fragen zu definieren, zu vereinbaren und zu fördern. In diesem Sinne begrüßt die EZB den Aktionsplan der Europäischen Kommission zur Finanzierung eines nachhaltigen Wachstums“.
Wie die Antworten der EZB bisher eindrucksvoll gezeigt haben, kann die EZB nur mit Hilfe gezielter Zusagen des Europäischen Parlaments und der Europäischen Kommission davon überzeugt werden, die Charta der Grundrechte in ihrer Arbeit endlich umzusetzen, wie dies alle anderen europäischen Institutionen schon seit langem tun. Dies widerspricht nicht dem Mandat der EZB, im Gegenteil, es ist die einzige Möglichkeit, dieses Mandat ordnungsgemäß zu erfüllen.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Harald Bolsinger (Weltethos Forschungsgruppe, Mitglied des Vorstands)

->Quellen: