Buch: „Überlebenswichtig“

Leonardo Boff: „Überlebenswichtig. Warum wir einen Kurswechsel zu echter Nachhaltigkeit brauchen“

von Gerhard Hofmann

„Die gegenwärtige Situation ist in sozialer wie in ökologischer Hinsicht so schlimm, dass uns ein Weitermachen wie bisher – in der Art und Weise, die Erde zu bewohnen, zu produzieren, die Güter zu verteilen und zu konsumieren, wie sie sich in den letzten Jahrhunderten entwickelt hat – nicht die Bedingungen garantiert, um unsere Zivilisation, ja vielleicht nicht einmal die Spezies Mensch insgesamt, zu retten.“ Mit dieser eindeutigen – und schwerlich bezweifelbaren – Bestandsaufnahme beginnt der Befreiungstheologe Leonardo Boff sein jüngstes Buch „Überlebenswichtig – warum wir einen Kurswechsel zu echter Nachhaltigkeit brauchen“. Ein sehr schwierig zu besprechendes Werk, weil man nahezu jeden Satz unterstreichen möchte, einen die Rezension aber zu Auswahl und Zusammenfassung zwingt.

Bußschweigen
Der 1938 geborene Leonardo Boff, einer der profiliertesten Vertreter lateinamerikanischer Theologie und Spiritualität, wurde 1985 einer breiten Öffentlichkeit weit über Brasilien hinaus bekannt, als ihn der damalige Leiter der römischen Glaubenskongregation, Nachfolgeinstitution der berüchtigten Inquisition, Kardinal Joseph Ratzinger, mit einem einjährigen sogenannten Bußschweigen belegte, einem Rede-, Lehr- und Publikationsverbot. Der Grund dafür war seinerzeit nicht der übliche Vorwurf der Kurie an die Befreiungstheologen, sie tarnten den Marxismus durch kirchliche Lehren – Boff hatte die „wahre Kirche“ des Heiligen Geistes gegen die „falsche“ Kircheninstitution mit ihren Machtansprüchen über die Gläubigen gestellt und dabei ausdrücklich auf die Reformation Bezug genommen. Ratzingers Vorwurf lautete unter anderen, Boff zufolge habe Christus keine bestimmte Kirchengestalt befohlen, sodass aus dem Evangelium heraus auch andere als das katholische Kirchenmodell denkbar wären, und dass Boff den Machtmissbrauch der Kirche unnötig polemisch und respektlos beschrieben und der Kircheneinheit damit geschadet habe. In einem Interview mit Philipp Gessler in der taz beschrieb Boff vor kurzem den unwürdigen Akt: „…ein großer Saal in einem großen Gebäude. Ein langer Korridor von, glaube ich, über hundert Metern, voller Teppiche und großer Bilder aus dem Mittelalter, ganz fein und reich – und ganz am Schluss kommt dann eine Tür, ganz klein. Man muss sich bücken, um hindurch zu kommen. Dann ein sehr schwarzer Saal, schwarz, tatsächlich. Mit vielen Büchern. Und Ratzinger sitzt oben, einen halben Meter höher. Und ich unten. Er schaut nach unten. Nur räumlich ist das schon ein Zeichen, dass er überragend ist. Darunter der Sekretär, der alles notiert. Und es war derselbe Stuhl wie bei Galilei…“

Die Erde als Partner des Menschen

Jetzt also die Nachhaltigkeit. Denn, so der Klappentext, „die ökologische Frage ist die alles entscheidende Frage des 21. Jahrhunderts. Die Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen, Rückgang der Artenvielfalt, grenzenlose Ausbeutung von Ressourcen, immer weiter steigender Energieverbrauch, lebensfeindliche Wirtschafts- und Finanzsysteme führen die Erde an den Rand des Abgrunds“. Leonardo Boff zeigt in seinem Buch zunächst, dass sich die bisherigen Modelle – trotz des Etiketts „ökologisch“ oder „nachhaltig“ – innerhalb des alten Wachstumsparadigmas bewegen und deshalb unzulänglich sind. Er entwickelt daher ein neues zivilisatorisches Modell, ein neues Verhältnis der Menschen zur außermenschlichen Kreatur und zur Erde; dafür versteht er die Erde und die Natur als lebende Persönlichkeiten, als Partner des Menschen. Er begründet überzeugend, wie nur diese revolutionäre Sicht einer echten Nachhaltigkeit den drängenden Herausforderungen gerecht wird. Ein Weckruf, die derzeitige bedrohliche Situation als Chance für ein radikales Umdenken zu begreifen.

„Die große Herausforderung“, die aus diesem Weckruf für Boff resultiert, fasst der Brasilianer so zusammen: Wir müssten „eine nachhaltige Lebensweise schaffen“. Der Begriff „Nachhaltigkeit“ dürfe dabei nicht verkürzt werden, dürfe nicht – wie heute zumeist der Fall – als eine Qualität von Wachstum und Entwicklung verstanden werden: „Nachhaltigkeit muss vielmehr alle Wirklichkeitsbereiche umfassen: von den Einzelnen über die Gemeinden, die Kulturen, die Politik bis zur Industrie. Nachhaltigkeit ist eine Seins- und Lebensweise, die uns abverlangt, unser Handeln als Menschen in Einklang zu bringen mit den begrenzten Möglichkeiten eines jeden Lebensraums und mit den Bedürfnissen der gegenwärtig lebenden Menschen sowie der künftigen Generationen.“

Eingehende Diskussion der Nachhaltigkeitsbegriffe

Boff beschäftigt sich ausführlich mit dem Begriff Nachhaltigkeit, polyglott zitiert er seine Bedeutung in mehreren Sprachen, historisch geht er sogar noch bis 1560, hinter den in Deutschland stets als Ahnvater des Begriffs zitierten Hans Karl von Carlowitz (1713: „Silvacultura Oeconomica“) zurück. Es ist ein langer Weg, bis 1972 das Wort zum ersten Mal in seiner modernen erweiterten Bedeutung auftaucht – in den berühmt gewordenen „Grenzen des Wachstums“. In der ersten Fassung wird „sustainable“ noch mit „aufrechterhaltbar“ übersetzt (S. 142). Allerdings heißt die Erkenntnis schon damals: „Ein endlicher Planet erträgt kein auf Grenzenlosigkeit angelegtes Projekt.“

Überall zitiert wird – auch von Boff – eine spätere Definition aus dem Abschlussbericht der Brundtland-Kommission von 1987 – demnach ist nachhaltige Entwicklung jene, „die den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation dient, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen“. Konsequenz aus dem Brundtland-Bericht war 1992 die UNCED (United Nations Conference on Environment and Development) in Rio de Janeiro – deren Nachfolgekonferenz in Johannesburg 2002 dann in Frustration endete – noch boykottierten die Mächtigen die Diskussion um Erneuerbare Energien als Ersatz für Fossile, vor allem das Erdöl. Sehr gemischt fiel schließlich das Resultat der „Rio 20+“-Konferenz 2012 aus – vor allem im Licht – besser überschattet von – der Finanzkrise, als sichtbarer „Bankrotterklärung des kurzfristigen Denkens“ (Klaus Töpfer). Allerdings griff Frankreichs Präsident Jacques Chirac in seiner Rede zum ersten Mal die Kultur als „vierte Säule der Nachhaltigkeit“ auf – eine Anregung des Australiers John Hawkes.

Aber seit der UNCED 1992 waren laut UN, so zitiert Boff die traurig-erschreckende Bilanz der vergangenen 20 Jahre,

  • 3 Millionen m² Wald abgeholzt und
  • 40 % mehr Treibhausgase emittiert worden, hatte
  • die Artenvielfalt um 12 % abgenommen und waren
  • etwa die Hälfte der weltweiten Fischbestände vernichtet worden.

Nachhaltigkeit als bloße Rhetorik, gehaltlos, Phrase

  1. Boff diskutiert ausführlich und tiefschürfend viele auf dem Markt gehandelte Begriffe von Nachhaltigkeit – und verwirft fast alle. In den meisten Fällen sei – erstens – „nachhaltige Entwicklung“ nicht mehr als „bloße Rhetorik“. Denn „innerhalb des herrschenden Modells von Entwicklung, die nachhaltig sein will, ist die Rede von der Nachhaltigkeit gehaltlos und eine Phrase“. Alles was getan werde, geschehe unter Vorbehalt, dass „die Profite nicht gefährdet“ würden – im Grunde eine geschickte Art und Weise, die Aufmerksamkeit von den wirklichen Problemen abzulenken. Doch Boff sieht auch Fortschritte, wenn er Begriffe wie „Großherzigkeit“ und „Achtsamkeit“ als Nachhaltigkeitsattribute aufzählt – letztere hat er in einem eigenen Buch schon 2013 erläutert: „Achtsamkeit. Von der Notwendigkeit, unsere Haltung zu ändern“.
  2. Als zweites verwirft Boff den keynesianischen Neokapitalismus: „…keine Alternative, sondern lediglich die Fortschreibung des Fortschrittswahns“ – führende deutsche Theoretiker wie Flassbeck und Bofinger hätten dies offen erklärt. Boff schöpft aus einem anscheinend nicht versiegenden Zitatenquell: „Wir Nordamerikaner haben Geld ausgegeben, das wir nicht hatten, für Dinge, die wir nicht brauchten. Das Modell der Vereinigten Staaten ist falsch. Wenn die ganze Welt sich an diesem Modell orientiert, haben wir keine Überlebenschance mehr“, zitiert er Ken Rosen (Berkely University): 67 % des US-BIP stammen nicht aus eigener Produktion, sondern aus Importen, hauptsächlich aus China.
  3. Als dritte Spielart räumt er den „natürlichen“ Kapitalismus ab: Der sei zwar verführerisch, er spiele den Einklang mit der Natur vor, doch in Wahrheit sei die Natur hier nur Reservoir von Rohstoffen. Allerdings kritisiert Boff das hierhin gehörende Beispiel mit einem sehr verstaubten Beispiel von 1976 – da ist man heute weiter.
    Probleme der „Green Economy“
  4. Viertes Beispiel – zunächst möchte man es nicht glauben – ist die sogenannte Green Economy, der hierzulande Jahr für Jahr Konferenzen von Regierungsseite gewidmet werden. Boff nennt sie schlicht „eine Illusion“ – in Wirklichkeit ein neuer „hegemonialer Diskurs“ von UNO, einigen Regierungen und Unternehmen“. Boff liest in einem UNEP-Dokument von 2008 (Towards Green Economy) und im Abschlussdokument von Rio 20+ zwar hehre Ziele (z.B. CO2-Reduzierung durch Erneuerbare Energien) in Richtung einer Wirtschaft, die zur Verbesserung des Wohlstands und sozialer Gleichheit der Menschen führe und gleichzeitig Umweltrisiken und ökologische Knappheit spürbar verringere, also die Armut beseitige und das Kapital der Natur erhalte. Aber Aussagen über Mittel und notwendige Veränderungen von Makroökonomie und Gesellschaft vermisst Boff. Und er fragt: „Ist diese Initiative innerhalb des auf grenzenlosem Wachstum beruhenden herrschenden Systems zu verwirklichen?“ Nicht überraschend ist er skeptisch, denn Rio 20+ habe sich zwar im „Schlussdokument unter dem Titel Die Zukunft, die wir wollen die grüne Ökonomie ‚im Kontext der nachhaltigen Entwicklung, der Erhaltung der Umwelt und der Ausrottung der Armut‘ zu eigen gemacht. Die kritische Analyse des Textes zeigt jedoch, dass es sich hierbei um eine willkürliche Aneinanderreihung von bewegenden Absichtserklärungen handelt (wir billigen“, „wir unterstützen“, „wir wünschen“, „wir bekräftigen“ … ), die ohne jeden praktischen Nutzen sind, weil sie keine konkreten Vermittlungsschritte, Techniken und Geldmittel benennen, um diese guten Absichten in die Tat umzusetzen“.Allerdings verdammt Boff die Grüne Wirtschaft nicht völlig – er lässt einige gute Haare daran: LUCLUF (Land Use, Land-Use Change and Forestry) zum Beispiel, oder dass externen Faktoren (Ressourcen) wie Wasser, Böden, Luft, Nährstoffe – das Naturkapital (z.B. 15.500 Liter Wasser für die Produktion eines Kilos Rindfleisch) – ein ökonomischer Wert zugemessen werde. Boffs Schluss: „Die Wirtschaft muss in die Gesellschaft so eingebettet sein, wie ihrerseits diese in die Ethik“. Die grüne Wirtschaft sei nur dann „akzeptabel, wenn sie in ihrer Ausformulierung vertieft wird, sodass sie dann tatsächlich ein neues Paradigma für das Verhältnis zur Erde darstellt, in dem nicht die Ökonomie, sondern die Nachhaltigkeit des Planeten, des Systems Leben, der Menschheit und unserer Zivilisation bestimmend ist“. Die Green Economy löse zwei große Probleme nicht: Die Frage der Ungleichheit ebenso wenig wie das Problem der Aufrechterhaltung des Konsumniveaus der Reichsten. Denn zwingend notwendig sei „eine Reduktion des Konsums und eine Genügsamkeit in solidarischem Miteinanderteilen“. Kritisch geht Boff entsprechend auch mit dem Schlagwort vom „Green New Deal“ um, das er in Deutschland verortet; hier irrt er: der Begriff stammt aus den USA, später griff ihn die UNEP auf – nur die Heinrich-Böll-Stiftung samt Grünen nahm das Konzept auf. Was Boss fehlt, ist die Suffizienz – das Genug.
  5. Als fünftes und unzureichendes Konzept nimmt sich Boff den Ökosozialismus vor: Die Ökosozialisten wenden sich zwar gegen den „Green New Deal“, die suggerierte Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcen-, bzw. Energieverbrauch. Doch gehöre der zwar erwägenswerte Vorschlag einer nötigen Schrumpfung der Wirtschaft unter Beachtung von ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit „immer noch dem alten Paradigma an, der die Einheit von Mensch, Erde und Kosmos nicht sieht und auch die Erde nicht als lebendigen Großorganismus betrachtet.“
    Positive Aspekte von Nachhaltigkeitsbegriffen: Bioökonomie, Solidarische Ökonomie, ‚erfülltes Leben‘ der andinen Völker
  6. -8. Drei Spielarten von Nachhaltigkeit betrachtet Boff in der weiteren Folge mit größerer Sympathie: Die Nummer 6: „Öko-Entwicklung oder Bio-Ökonomie“ als „mögliche Nachhaltigkeit“ – die Nummer 7: Solidarische Ökonomie“ als „lebbare Nachhaltigkeit im kleinen Maßstab“ und schließlich – Nummer 8 – „Das ‚erfüllte Leben‘ der andinen Völker“ als „die ersehnte Nachhaltigkeit, eine „Ethik der Genügsamkeit für die ganze Gemeinschaft und nicht nur für den Einzelnen“ – ähnlich dem Beispiel Bhutans mit seinem „Bruttoinlandsglück“.

Immer wieder zitiert Boff aus der Enzyklika Laudato Si‘ von Papst Franziskus: „Die Umwelt ist ein kollektives Gut, ein Erbe der gesamten Menschheit und eine Verantwortung für alle. Wenn sich jemand etwas aneignet, dann nur, um es zum Wohl aller zu verwalten. Wenn wir das nicht tun, belasten wir unser Gewissen damit, die Existenz der anderen zu leugnen.“

Leonardo Boff über Papst Franziskus und die Enzyklika Laudato Si‘, aus der er im Buch ausführlich zitiert: „Wir kennen uns. Er hat meine ganze Literatur gelesen und immer geschätzt. Er hat mich gefragt, ob ich ihm Materialien schicken könne. Er sagte auch: Schicken Sie mir das nicht direkt, das kommt nicht an. Es gibt Leute, die verhindern das. Schicken Sie es dem argentinischen Botschafter, der jeden Tag Mate mit mir trinkt, der übergibt mir das dann. Ich habe ihm tatsächlich viel Material geschickt. Dann habe ich gespürt, dass es sich nicht lohnt, lange Aufsätze zu schicken, aber dafür kleine Texte, die Grundbegriffe, die Perspektive. Und die wurden fast alle übernommen.“ (siehe taz vom 09.01.2017)

Illusion des Anthropozentrismus

Im Verlauf setzt sich Boff mit den weiteren Negativa unserer derzeitigen sozio-ökologischen Ordnung auseinander, diese sei deshalb nicht nachhaltig, weil die Erde lediglich als „Sache und Ressourcenspeicher“ angesehen werde; daraus sei die „Illusion des Anthropozentrismus“ (der Mensch im Zentrum der Schöpfung als absoluter Herrscher über die Natur ) entstanden. Der Mythos des grenzenlosen Fortschritts nähre Illusionen von rein technischen Lösungen der ökologischen Krise. Eine zergliedernde, mechanistische und patriarchalische Wirklichkeitsauffassung habe den Überblick übers Ganze verloren. Die übertriebene Wertschätzung des Individualismus verschmelze mit dem Geist des Wettbewerbs als grundlegendem Motor für die kapitalistische Akkumulation – die Folge: brutaler Sozialdarwinismus. Das gelte solange, wie Achtlosigkeit statt Achtsamkeit vorherrsche und das Kapital Vorrang vor den Menschen genieße. „Und so steuern wir fröhlich und einander fremd auf einen Abgrund zu, den unser Mangel an empfindsamer Vernunft, an Weisheit und transzendenter Sinngebung für des Leben geschaffen hat.“

Was zu tun ist

Nach der schonungslosen Diagnose widmet Boff die zweiten 80 Seiten seines Buchs der Therapie. Für seinen umfassenden Begriff der Nachhaltigkeit legt er zunächst seine kosmologischen und anthropologischen Grundannahmen dar. Wir müssten ein neues „Paradigma der Zivilisation entwickeln“ – eine „ungeheuer große Aufgabe, die aber keinen Aufschub“ dulde. Unter „Paradigma“ versteht Boff „die strukturierte Gesamtheit von Sichtweisen der Wirklichkeit, Werten, Traditionen, heiligen Bräuchen, Ideen, Träumen, Produktionsweisen und Konsumverhaltensmustern. Wissensfarmen, Wissenschaften, kulturellen und ästhetischen Ausdrucksfarmen und ethisch-spirituellen Wegen. Diese strukturierte Gesamtheit bringt eine in sich relativ stimmige, systemische Sichtweise hervor, die auch Weltanschauung bzw. Kosmovision genannt wird. Damit ist eine allgemeine Sichtweise vom Universum, von der Erde, vom Leben und vom Menschen gemeint, die als Orientierung für die Einzelnen und die Gesellschaft dient und das menschliche Bedürfnis nach einer umfassenden Sinngebung für alles erfüllt.“

Boff sieht heute zwei Paradigmen einander diametral gegenüberstehen: Einmal „die sogenannte moderne Weltanschauung, die wir als Kosmologie der Herrschaft bezeichnen, denn ihren Fokus bilden Eroberung und Herrschaft über die Welt“ – die „andere Weltanschauung bzw. Kosmovision nennen wir Kosmologie der Veränderung, und sie ist Ausdrucksweise des Ökozäns, das die ökologische Frage ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rücken wird“.

Quantenvakuum und Hintergrundenergie

Boff zitiert, seine Kosmovision entfaltend, Quantenvakuum samt „geheimnisvoller Hintergrundenergie“ sowie deren vier Ausdrucksweisen Gravitation, elektromagnetische Wechselwirkung, starke und schwache Kernkraft (welche die Wissenschaft bis heute nicht verstehen könne) – schwere Kost auch für den interessierten und vorgebildeten Laien.  Das Universum organisiere sich „in Gestalt immer höherer Komplexität, Interiorität und wechselseitiger Abhängigkeit“. Alle Seinsformen des Universums bestehen aus denselben physikalisch-chemischen Elementen – kurz: „aus Sternenstaub“. In dessen schöpferisches Chaos greife die barbarische Produktionsweise des industriellen Zeitalters geradezu mörderisch ein.

Mutter Erde

Die Erde versteht Boff in diesem Zusammenhang als Gaia – „Mutter“ Erde. Boff vertrat 2009 nach dem gescheiterten Klimagipfel von Kopenhagen in einer UN-Konferenz vor 190 Staatenvertretern den Vorschlag des bolivianischen Präsidenten Evo Morales argumentativ, den 22. April von „Tag der Erde“ in „Tag der Mutter Erde“ umzubenennen. Das hält Boff für sehr bedeutend, rückt es doch den Menschen aus dem Zentrum und reiht ihn ein in den Artenreichtum, den Gaia hervorgebracht hat. Denn der Mensch braucht ein erweitertes Bild seiner selbst: Nicht nur Körper und Geist machen ihn aus, sondern auch Gefühl, Seele und Psyche – aus ihr erwachse das Prinzip Hoffnung (Ernst Bloch).

Nachhaltigkeit nicht verkürzen

Kein Wunder, ist für Boff „ein Neuanfang zwingend geboten, der neue Begriffe, neue Visionen und neue Träume beinhalten muss, wobei die unverzichtbaren wissenschaftlichen und technischen Instrumente mit einbezogen werden müssen. Es geht um nicht weniger als darum, den Gesellschaftsvertrag unter uns Menschen und den Pakt mit der Natur und der Mutter Erde auf eine neue Grundlage zu stellen“. Dafür fordert er einen „Wandel der Gesinnung, das heißt eine neue mentale Software bzw. ein anderes Design unserer Art zu denken und die Wirklichkeit zu deuten“ – und eine Veränderung des Herzens. Denn die emotionale Intelligenz, die Intelligenz des Herzens, vermittle uns das Gefühl, Teil eines umfassenderen Ganzen zu sein. „Wir sind dringend dazu aufgefordert, ein Gefühl der globalen wechselseitigen Abhängigkeit zu entwickeln.“ Daher müssten wir ein scharfes Bewusstsein für die guten oder schlechten Folgen unseres Handelns , unserer Politik und unseres Eingreifens in die Natur entwickeln. Boff fasst die große Herausforderung so zusammen: „Eine nachhaltige Lebensweise schaffen. Der Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ darf nicht verkürzt, darf nicht den Substantiven Wachstum und Entwicklung lediglich als Adjektiv beigefügt werden, wie es heute überwiegend der Fall ist. Nachhaltigkeit muss vielmehr alle Wirklichkeitsbereiche umfassen: von den Einzelnen über die Gemeinden, die Kulturen, die Politik bis zur Industrie. Nachhaltigkeit ist eine Seins- und Lebensweise, die uns abverlangt, unser Handeln als Menschen in Einklang zu bringen mit den begrenzten Möglichkeiten eines jeden Lebensraums und mit den Bedürfnissen der gegenwärtig lebenden Menschen sowie der künftigen Generationen.

Boffs Nachhaltigkeitsdefinition

Dabei definiert Boff Nachhaltigkeit integral als „alles Handeln, das darauf abzielt, die energetischen, informations-gebundenen und physikalisch-chemischen Bedingungen aufrechtzuerhalten, die allen Seinsformen, insbesondere der lebendigen Erde, der Gemeinschaft des Lebens und dem menschlichen Leben dauerhaften Bestand verleihen, deren Fortbestand garantieren wollen und die Bedürfnisse der gegenwärtigen sowie der künftigen Generationen mitsamt der Lebensgemeinschaft, in die sie eingebunden sind, befriedigen, und zwar solcherart, dass das natürliche Kapital erhalten bleibt und in seiner Fähigkeit zur Regeneration, Reproduktion und Koevolution gestärkt wird.“ Auf allen Ebenen – auch global – müsse Nachhaltigkeit durchgesetzt werden, denn Nachhaltigkeit könne nicht nur für einen Teil des Planeten garantiert werden.

Aufruf zu Kooperation und Hoffnung

Im letzten Teil des Buches ruft Boff zu Kooperation und Hoffnung auf: „Wir erleben dramatische, aber zugleich auch hoffnungsvolle Zeiten. Dramatisch sind sie, weil unser gemeinsames Haus, die Erde, in Flammen zu stehen scheint. Wir müssen uns organisieren, um es zu retten. Hoffnungsvoll sind die Zeiten aber, weil immer mehr Menschen aufwachen und Ihre Verantwortung für die gemeinsame Zukunft des Lebens, der Menschheit und der Erde wahrnehmen. Diese Zukunft wird nur dann gewährleistet sein, wenn wir Nachhaltigkeit als den gemeinsamen Nenner aller Lebensformen und unseres Handelns zugleich festlegen.“

Politiker und Wirtschaftsführer merkten nämlich allmählich als Hauptursachen der gegenwärtigen Krise, „dass aufgrund des übertriebenen Gewinnstrebens und des Fehlens jeden rechten Maßes die Ethik mit Füßen getreten wird. Das führte zum Verlust jenes Vertrauens, das für ein funktionierendes Wirtschaftsleben nötig ist. Wir müssen wieder entschieden das Gute, Gerechte und Richtige tun und dürfen uns nicht damit begnügen, das Schlechte zu unterlassen. Deshalb ist die unbequeme Frage gerechtfertigt: Welche Art von Nachhaltigkeit können die reichen Industrieländer dem Leben und der Erde anbieten, wenn sie es nicht einmal schaffen, die Nachhaltigkeit dessen zu gewährleisten, was für sie das Wichtigste ist, nämlich der Märkte und der Geldwertstabilität!“

Paradigma aus Achtsamkeit und gemeinsamer Verantwortung

Boff zeigt sich überzeugt, dass das „Paradigma der Herrschaft und der Eroberung“ durch das „der Achtsamkeit und der gemeinsamen Verantwortung“ ersetzten werden wird. Denn die höchste Ebene des Bewusstseins, der Geist, werde „uns dazu bringen, das Leben mehr zu lieben als das materielle Kapital, jeglichen Schaden von der Biosphäre abzuwenden und der Erde nur das zu entnehmen, was wir wirklich brauchen, um ein anständiges Leben zu führen. Dies ist eine der Hauptzielsetzungen von Nachhaltigkeit.“

Weil wir sind von Natur aus Wesen der Kooperation und Solidarität seien, setze sich in Augenblicken großer Gefahr und kollektiver Tragödien diese Solidarität über Klassenunterschiede hinweg und fordere alle dazu auf, solidarisch zusammenzuwirken (Hölderlin: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“). Dann helfen wir einander, „um uns alle zu retten: Dieser Augenblick ist nahe, denn die Erde sendet unzweideutige Stresssignale aus und zeigt, dass sie am Ende ihrer Kräfte angelangt ist. Wir stehen nicht vor einer angekündigten Tragödie, sondern mitten in einer grundlegenden Krise, die uns reinigen wird und uns einen qualitativen Sprung auf die Ebene einer nachhaltigen Menschheit ermöglichen wird, die eine Welt bewohnt, die, wie Fernando Pessoa sagt, bis jetzt noch nie da gewesen ist, die wir aber zusammen in nachhaltiger Weise zum Leben erwecken können.“

Global Governance

Schließlich fordert Boff eine Art Weltinnenpolitik: „Es wird mit Sicherheit keine allgemeine Nachhaltigkeit ohne Global Governance, das heißt ohne ein multipolares Zentrum geben, dessen Aufgabe es ist, auf demokratische Weise die die gesamte Menschheit betreffende Politik zu koordinieren. Diese Konstellation ist ein Erfordernis der Globalisierung, denn diese hat die Verschränkung aller innerhalb ein und desselben Lebensraumes, des Planeten Erde, zur Folge. Doch früher oder später wird eine Global Governance geschaffen werden, denn sie duldet keinen Aufschub, wenn wir die globalen Probleme in Angriff nehmen und die allgemeine Nachhaltigkeit des Systems Erde und des Systems Leben gewährleisten wollen.“

Boffs Buch ist wichtig, lebenswichtig – ja „überlebenswichtig“.

Leonardo Boff: Überlebenswichtig – warum wir einen Kurswechsel zu echter Nachhaltigkeit brauchen, Grünewald-Verlag, 168 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-7867-3056-1

->Quelle: jpc.de/leonardo-boff-ueberlebenswichtig