„Es geht nur um Qualität“

Interview mit Michael Braungart, einem der Erfinder des Wirtschaftskonzeptes „Cradle to Cradle“ und Professor an der Erasmus-Universität Rotterdamm

Interview: Marcus Noack – zuerst veröffentlicht auf: umwelthauptstadt.de – mit freundlicher Genehmigung

Frage: Wofür steht das Konzept Cradle to Cradle?
Braungart: Das Konzept „Cradle to Cradle“ steht für Innovation und Qualität. Es hat nichts mit traditioneller Nachhaltigkeit zu tun. Es geht darum Produkte herzustellen, die viel bessere Qualität haben, als es bisherige sind. Dabei werden alle Produkte noch einmal neu erfunden, entweder für die Biosphäre oder die Technosphäre. Dinge, die verschleißen wie Bremsbelege oder Schuhsolen werden für die Biosphäre neu entwickelt. Dinge, die nur genutzt werden wie Maschinen oder Fernseher werden für die Technosphäre entwickelt, es entsteht also kein Abfall sondern allles ist Nährstoff für die Bios- oder Technosphäre. Cradle to Cradle feiert den menschlichen Fußabdruck anstatt ihn zu minimieren.

Michael Braungart und Johanhnes Hoffmann (web) - Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft - 20150320Michael Braungart mit dem Leiter der Forschungsgruppe Ethisch-Ökologisches Rating, Prof. Johannes Hoffmann – Foto © Gerhard Hofmann, Agentur Zukunft

Ist Cradle to Cradle ein weiteres Nachhaltigkeits-Modell?
Wir haben die 40 Jahre Weltuntergangsdiskussion seit dem Club of Rome-Bericht von 1972 genutzt, um bessere Produkte zu machen. Nachhaltigkeit ist nur das Minimum, also sozusagen etwas zu tun, das den anderen nicht schädigt oder Schaden auszugleichen, den man verursacht hat.
Wie sind Sie damals vor 25 Jahren auf den Cradle to Cradle Ansatz gekommen?
Das ist relativ einfach. Ich habe eine ganze Reihe von Kollegen, mit denen ich nach wie vor zusammen arbeite, wie etwa Katja Hansen oder Douglas Mulhall. Die Idee zu Cradle to Cradle entstand nach der Sandoz-Katastrophe. Damals hatte die schweizerische Chemie gefragt, wie es nun weitergehen solle. Wir haben gesagt, ein Problem kann mit der selben Denkweise gelöst werden, wie es verursacht wurde. Cradle to Cradle verbindet die europäische Komplexität mit der amerikanischen Handlungsorientierung. In Europa wird man für Probleme bezahlt, in Amerika fürs Handeln. Cradle to Cradle verbindet ganz viele Kulturen. Es braucht Lebensfreude, also Menschen, die sich freuen, auf der Welt zu sein. Heute geht es darum, die Menschen als Chance zu sehen und nicht als Schädlinge.
Sie halten unter anderem an der Leuphana Universität die Professur Cradle to Cradle und Öko-Effektivität. Was ist die Vision hinter Cradle to Cradle?
Im Augenblcik bin ich in Lüneburg beurlaubt bis 2017. Ich lehre an der Erasmus Universität in Rotterdamm, habe dort einen Lehrstuhl in der European Business School, welche zur Zeit die angesehenste öffentliche Business-School in Europa ist. Ich möchte zeigen, dass Cradle to Cradle vor allem ein Wirtschaftskonzept ist, wie man Produkte machen kann, die nicht mit Sklavenarbeit aus Fernost konkurrieren müssen.
Wie produziert man „einfach intelligent“?
Die jetzigen Produkte sind erstaunlich primitiv was Umwelt- und Gesundheitsschutzrechtlichkeit anbelangt. Wir finden in Kinderspielzeug hunderte von schädlichen Chemikalien. Ein einfacher Parkzettel oder eine Euromünze ist nie für Hautkrankheiten entwickelt worden. Bei Cradle to Cradle geht es darum, die Dinge für die Bios- oder Technosphäre positiv zu definieren. Wir versuchen, die bestehenden Dinge zu optimieren und nicht neu zu machen. Die Produkte sind nicht teurer, wenn man sie in Bezug auf Umwelt und Gesundheit optimiert.
Können Sie abschätzen, ob die Implementierung von Cradle to Cradle in Unternehmen Mehrkosten verursacht?
Das Gegenteil ist der Fall. Wir stellen fest, dass die Unternehmen extrem profitabel werden, weil ihre Material-Lieferstrecken viel einfacher werden und viel bessere Produkte entstehen. Der Nachteil ist dann allerdings, dass diese Unternehmen so profitabel werden, wie sie nie zuvor waren und dann an irgendwelche Investoren verkauft werden, die dann als erstes das Budget für Cradle to Cradle senken, weil sie denken, dass Cradle to Cradle ein Moralthema sei. Die Moral ist aber immer dann weg, wenn man sie eigentlich bräuchte. Die Investoren denken also, es sei eine Art Luxus, den man sich nicht leisten könne.
Wieviel Prozent der Unternehmen haben schon einmal von cradle to cradle gehört?
Es lassen sich alle Produkte nach Cradle to Cradle herstellen. Wieviele davon gehört haben kann ich nicht sagen.
Wie sehr darf man Ihre Aussage ernst nehmen, dass Verschwendung nicht schlecht ist?
Das Höchste in Deutschland ist ein Passivhaus. Uns geht es darum Gebäude wie Bäume zu haben, die die Luft und das Wasser reinigen und nicht nur ein bisschen weniger Energie verbrauchen. Sie sollen also einen ökologischen Fußabdruck erzeugen, der ein Feuchtgebiet wird und die anderen Lebewesen unterstützt, nicht weniger schädlich zu sein. Die Erde hat über zehntausend Mal mehr Energieeintrag als wir jemals brauchen würden, wir müssen also nicht sparen, verzichten und vermeiden.
Gibt es eine Cradle to Cradle Community?
Ja, die Community organisiert sich selbst. Die Leute sehen beispielsweise einen Vortrag oder lesen einen Beitrag und entscheiden sich dann, mitzumachen. Es gibt in Deutschland den Cradle to Cradle e. V. mit ganz vielen jungen Studenten, es gibt Cradle-People, Cradle-Net oder Cradle-Supporters, aber auch Kirchengemeinden oder die IG-Metall. Mc Kinsey hat beispielsweise hunderte von Trainings zu Cradle to Cradle.
Muss nicht auch der Endverbraucher wissen was Cradle to Cradle ist, um „gute“ von „schlechten“ Unternehmen unterscheiden zu können?
Nein, gar nicht. Ich muss doch auch nicht wissen, wie ein Airback funktioniert. Wir haben zum Beispiel Unterwäsche für einen großen Hersteller gemacht, diese Unterwäsche ist die erste, die wirklich für Hautkontakt gemacht ist. Sollte jetzt der Hersteller darauf schreiben, dieser BH ist für Hautkontakt gemacht? Wenn er das täte, würde er ja alle anderen Dinge dabei diskreditieren. Es ist einfach nur ein gutes Produkt und sonst nichts weiter. Es geht um ganzheitlich umfassende Qualität.
Wie wird Cradle to Cradle von den Unternehmen praktiziert? Kommt es nur für vereinzelte Produkte zum Einsatz oder wird das komplette Unternehmen darauf ausgerichtet?
Die meisten Unternehmen richten das komplette Unternehmen auf Cradle to Cradle aus. Natürlich probiert jedes Unternehmen es zunächst einmal aus, so wie man den großen Zeh ins Badewasser steckt. Aber wenn man einmal verstanden hat, dass weniger schlecht nicht gut ist, dann kann man gar nicht mehr anders.
Kann man sagen welche Unternehmen mehr Cradle to Cradle für sich nutzen, sind es eher Großunternehmen, Mittelständler oder kleine Unternehmen?
Das kann man so nicht sagen. Schauen Sie sich Unternehmen wie Goodbaby (Video), Maersk oder Puma an, die alle ehrgeizige Ziele mit Cradle to Cradle verfolgen. Es kann also genauso gut die Frima Unilever sein wie auch der kleine Müsli-Hersteller. Familien-Unternehmen sind im allgemeinen schneller, weil sie einfach längerfristig denken und weil sie nicht fragen, wie kann ich möglichst viel Geld damit verdienen sondern wie kann ich möglichst gute Produkte herstellen. Man braucht Leute, die aus dem bestehenden Denken heraustreten und nach Innovationen suchen.
Wie ist der normale Ablauf, kommen die Unternehmen auf Sie oder gehen Sie auf die Unternehmen zu?
Wenn die Unternehmen nicht auf uns zukommen, dann arbeiten wir in der Regel nicht mit ihnen zusammen, da wir sonst das komplette mittlere Managament gegen uns haben.
Wie geht es mit Cradle to Cradle weiter?
Wir gehen davon aus, dass Europa bis 2030 auf Cradle to Cradle umgestellt ist. Wenn Sie sehen, wie die Ellen MacArthur Foundation es schafft, praktisch alle führenden Unternehmen Europas an einen Tisch zu bekommen, dann stimmt mich das sehr optimistisch. Ein Beispiel: Michail Gorbatschow hat mir einmal gesagt, dass für Glasnost und Perestroika nur drei Prozent Mitglieder der Kommunistischen Partei nötig waren. Er hat es geschafft, dieses hochgerüstete Imperium friedlich auseinader fallen zu lassen, das war eine riesen Leistung, realisiert mit nur wenigen Leuten. Bei Cradle to Cradle ist es ähnlich, obwohl es allmählich Main-Stream wird.

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Campact korrigiert Griechenland-Klischees

„Selber schuld?“

blog_campact_logo_340x105Die Griechenland-Krise bewegt ganz Europa – und auch das Campact-Team. Was die Cammpaigner dabei besonders wurmt: Die Medien berichten einseitig über die Krise. Wie im Groschenroman sind Gut und Böse klar verteilt – und die Griechen schnell zum Sündenbock gemacht.

In diesem Meinungsklima mit Kampagnen für ein solidarisches Europa zu streiten, ist unglaublich schwierig. Deswegen lässt Campact im folgenden Video fünf Expert/innen mit Argumenten zu Wort kommen, die in der Öffentlichkeit kaum bekannt sind.

Europa ist am vergangenen Wochenende knapp einem Desaster entgangen: Ein Grexit hätte die humanitäre Krise in Griechenland massiv verschärft – und dem Projekt Europa schweren Schaden zugefügt. Und auch mit einem neuen Sparprogramm und den Verhandlungen über ein drittes Kreditpaket ist die Krise noch lange nicht beendet. Sie wird uns auch in den kommenden Monaten stark beschäftigen.

Deswegen ist es auch nicht egal, wie in den Medien derzeit Schuld und Verantwortung verteilt werden. Nach wie vor dominiert ein einfaches Bild: Auf der einen Seite die eiserne Angela Merkel mit ihrem knallharten Unterhändler Wolfgang Schäuble, die das Geld der deutschen Steuerzahler/innen gegen die prassenden Griechen verteidigt. Auf der anderen eine linksradikale Regierung, die Europa monatelang an der Nase herumführt und alles Vertrauen verspielt hat. weiterlesen